„Es ist pervers"
Urs Widmer im Interview mit WirtschaftsWoche
Der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer über das Sprachregime des Kapitalismus und die Unterwerfungslust der Manager.
WirtschaftsWoche: Herr Widmer, Sie behaupten, die Sprache des Kapitalismus habe „präfaschistische Beiklänge". Wie kommen Sie darauf?
Durch meine Untersuchungen über die Sprache des Faschismus und die deutsche Literatur nach 1945, also die Generation Heinrich Bölls. Deren Anspruch war es, sprachlich bei null anzufangen. Das stellte sich, wie ich merkte, als unmöglich heraus. Die Schriftsteller hatten keine andere Sprache zur Verfügung, als die, die sie im Faschismus erlernt hatten, und es dauerte Jahrzehnte, bis das Deutsche wieder jene Biegsamkeit zurückerhielt, auf die der Schriftsteller für seine Arbeit angewiesen ist. Jenes Minimum an Naivität, ohne die keine Poesie möglich ist. Und kein Leben.
Was hat das mit der Sprache der Ökonomie zu tun?
Alle Diktaturen, gipfelnd im Faschismus, suchen sprachliche Eindeutigkeit. Genau darin ist ihnen die Sprache der Ökonomie verwandt: Sie sucht nach eindeutigen Regelungen und gängelt das Sprachverhalten, freilich nicht durch Anordnung, sondern durch stilles gegenseitiges Abgleichen. Und sie hat eine Eigenschaft, die für alle korrupten Sprachen charakteristisch ist: Sie ist durch und durch euphemistisch. Sie setzt den Begriff an die Stelle der Wirklichkeit. Schon der Begriff „freie Marktwirtschaft" wirkt da wie Hohn.
Sie meinen, die Marktwirtschaft sei alles andere als frei?
Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich behaupte keineswegs, die Wirtschaftswelt sei faschistisch. Aber die „Power" von heute erinnert verdächtig an die „Kraft" von damals. Die Sieger, die Tüchtigen, Kompetitiven und Gesunden setzen auf Sieger, und ich habe den Verdacht, dass sie in den Nicht-so-Gesunden und weniger Kompetitiven unwertes Leben sehen. „Lead, follow or get out of the way", so hat es ein hochrangiger Manager gesagt.
Und – was heißt das?
Das heißt, dass wir heute einerseits in einigermaßen funktionierenden Demokratien leben, in denen andererseits eine Ökonomie gedeiht, die die Menschen auf die kriegerischen Ideale des Kampfes und der Härte, des Vitalismus und des Funktionierens, der Disziplin und des Gehorsams einschwört. Ich wundere mich immer wieder, dass die gleichen Leute, die sich als mündige Bürger verstehen, sich schier widerstandlos Tag für Tag in eine Arbeitswelt begeben, in der nichts oder kaum etwas demokratisch geregelt ist. Am wenigsten die Verteilung des erwirtschafteten Geldes.
Sie kritisieren die Eindimensionalität der ökonomischen Sprache und ihre normierende Kraft. Was steckt dahinter?
Macht. Wer Macht anstrebt, muss Gefolgschaft und Konformität erzeugen. Dazu ist die Sprache hervorragend geeignet. Der eindeutige, formalisierte Jargon der globalisierten Wirtschaft hat etwas ungemein Beruhigendes, er suggeriert, dass man eine festumrissene Aufgabe, ein definiertes Ziel und eine klare Funktion, kurz: dass man die Wirklichkeit im Griff hat. Nur: Der Area Sales Manager wird ein Weilchen lang stolz auf seinen bedeutsamen Job sein, aber er kann sich bald nicht mehr verhehlen, dass er wie eh und je mit seinen Staubsaugern loszieht und von unwilligen Hausfrauen die Tür vor der Nase zugeknallt bekommt...
Warum wurde der Code der Wirtschaft mächtiger als beispielweise der von Parteien und Kirchen?
Jede Gruppe hat ihren Code, auch wir Literaten haben einen. Nun kann man mit den Mustern, die man verwendet, identisch oder weniger identisch sein. Ich habe das Glück, in einem Beruf zu arbeiten, wo die Anpassungszwänge nicht so stark sind. In der Wirtschaftswelt, wo der Anpassungsdruck gewaltig ist, liefern sich immer mehr Menschen dem herrschenden Code aus – eben weil er herrscht. Sie suchen geradezu das, was man früher entfremdetes Leben nannte. Der Code ist so etwas wie ein rhetorischer Mitgliedsausweis: Wenn ich ihn drauf habe, bin ich dabei. Wenn nicht, habe ich nicht einmal eine Chance ins Vorzimmer zu treten, weil schon der Portier merkt: Was will denn der hier?
Der Jargon als Eintrittskarte?
Ein mit sich selbst identischer, kraftvoller Geist wird sich nie den Forderungen des Jargons beugen. Man begegnet solchen Köpfen durchaus auch in der Wirtschaft, gerade in den sogenannten oberen Etagen. Novartis-Chef Daniel Vasella oder Herr Ackermann von der Deutschen Bank sind gewiss gescheit genug, nicht allzu häufig in die Falle der gewollten Spracharmut zu tappen. Doch wird die differenzierte Intelligenz nicht dazu genutzt, sich gegen das potemkinsche Sprachverhalten der Wirtschaft zu wehren. Im Gegenteil: Der Siegeszug des Jargons ist dort ausdrücklich gewollt. Schließlich geht es, eben, um Macht. Der Jargon wird in den oberen Etagen also besser durchschaut als in den unteren?
Ja. Es ist wirklich merkwürdig, dass er am eilfertigsten von den – nennen wir sie mal so – Fußtruppen gesprochen wird. Wir Menschen haben die fatale Neigung, uns mit den Siegern zu identifizieren, mit einem als aggressiv erlebten Vorbild. Gerade die, die auf der Leiter des Erfolgs nur eine oder zwei Stufen hochzuklettern vermochten, sprechen auf eine oft tragikomische Art diese Siegersprache. Als gäbe es gar keine andere. Sie haben keine andere. Ihre eigene Hochzeit nennen sie dann eine Win-Win-Situation.
Wie ist dieser Jargon in die Wirtschaftswelt eingedrungen?
Die Täter haben keine Namen. „Es" war es. Beginnend mit Ludwig Erhard und dem Wirtschaftswunder ist „es" geschehen, und viele Leute waren beteiligt. Im Unterschied zum Faschismus, in dem es Täter gibt und eine Sprache, die von diesen Tätern manipuliert wurde, hat die Sprache in einer Demokratie die Chance, ihr eigenes Leben zu entwickeln. In der Vielfältigkeit einer Demokratie ist es schwieriger, der Sprache die Ambivalenz auszutreiben. Sie stößt das eine aus, wehrt das andere ab und nimmt ein drittes auf. Die Sprache tut also, was sie tut, sie mendelt sich nach darwinistischen Prinzipien durch. Es gibt keinen Schuldigen und keine Schuld. Aber wer auf die reichen Möglichkeiten der Sprache verzichtet, verarmt auch sonst.
In Ihrem Theaterstück „Top Dogs" haben Sie das sprachlose Wirtschaftspersonal schon vor ein paar Jahren auftreten lassen. Woher bezogen Sie Ihr Material?
Aus Interviews in Outplacement-Firmen. Und ich habe mich eine Zeit lang als Abendhobby in die einschlägigen Bars gesetzt, wo die Herren der mittleren Etage sich entspannen. In gewissem Sinn haben meine Manager die Groteske mitgeschrieben; die Unerschütterlichen und auch die, die nach zwei Whiskys ihrem Gegenüber Geständnisse machen wollten und auch im Privatesten ihre Sprachklischees nicht loswurden. Die Ambivalenz, die den Menschen erst definiert, ist in ihrem Sprechen systematisch ausgeschaltet.
Sie meinen, auf der einen Seite stehe der Schriftsteller, der den Leser verunsichert, und auf der anderen Seite die Wirtschaft, die eine Sprache der Bestätigung spricht?
Ja, wir sind gewiss Antipoden. Die Dichter geben keine Antworten, sondern stellen Fragen. Sie sind immer mit der Tatsache beschäftigt, dass eine Sache mindestens zwei Seiten hat. Es gibt keine guten Menschen und keinen bösen Menschen, es gibt in all unserem Tun immer auch sein Gegenteil. Ambivalenz. – Jetzt sehen Sie sich die Börsenberichterstattung im Fernsehen an. Alles eindeutig. Alles richtig. Alles sytemnotwendig. Es ist pervers.
Pervers?
Weil die TV-Ökonomen mit heiligen Ernst von Dingen reden, die vollkommen fiktiv sind. Sie liefern Spielkasinoberichte, tun aber so, als sprächen sie aus den Heilszentren dieser Welt. – In der Tat hat die Börse durchaus religiöse Rituale. Sie ist so etwas wie eine Kirche ohne einen Gott der alten Art. Es gibt Priester (die TV-Kommentare sind ihre Predigten), die Börsenkardinäle, die Finanzpäpste...
Sie übertreiben. Uns fällt bei der Börsenberichterstattung nur robuste Zuversicht auf.
Sie scherzen. Dieser Optimismus im Dienst der Sache kommt mir wie das Pfeifen im Wald vor. Wir sind bereit, alles, auch das Absurdeste zu glauben, wenn es nur unsere Ängste bannt. Die hysterische Selbstbejahung der Wirtschaft rührt gerade daher, dass das System in Wirklichkeit aufs äußerste gefährdet ist. Denn niemand weiß, wie viel Geld es überhaupt auf Erden gibt, wo es ist und was es dort tut. Man weiß es kaum vom eigenen Geld.
Können wir die Wahrheit nicht vertragen? Oder ist der Optimismus nur dazu da, sich selbst ständig neu zu beglaubigen?
Um das alles auszuhalten, muss man ganz schön viel weghalluzinieren. Und es ist dann nach Feierabend nicht einfach, das zu sein, was man gern wäre.
Was wären die Menschen denn gern?
Sie wären gern bei sich, was sonst? Bei sich selbst zu sein, das fällt einem in der mittleren Etage einer Großbank schwer. Naja, man verdient 8000 Euro, fährt ein schönes Auto, zweimal im Jahr in Urlaub…
Okay, jetzt werden sie ironisch. Aber im Ernst: Wollen Sie mir weismachen, dass man sich als Mitarbeiter identisch fühlen und herzlich freuen kann, wenn der Arbeitgeber seinen Quartalsgewinn zum achten Mal in Folge gesteigert hat? Nein, das geht nicht auf. Ein Arbeits-Ich und ein Feierabend-Ich, wie soll das gehen? Künstler sind darum immer auch solche, die gar nicht wissen, ob sie gerade arbeiten oder nicht. Wir arbeiten immer oder nie.
Könnte es sein, dass in Ihrer Einstellung zur Wirtschaft und Ihrer Sprache eine grundsätzliche Abneigung gegen den Homo oeconomicus steckt?
Mag sein, obwohl mein Sozialneid gering ist, denn ich verdiene gut.
Das meinen wir nicht, uns geht es um das Verhältnis des Schriftstellers zur Denkweise der Wirtschaft und zu ihrem Habitus.
Naja, natürlich, da spielt sicher auch meine persönliche Geschichte mit. Ich komme aus einem bürgerlichen Haus, Bücher statt Geld, mein Vater war Kommunist, dann, ab etwa 1950, ein kritischer Beobachter aller Politik, auch der linken. Ich war dann in den späteren Sechzigerjahren der deutschen Linken nahe. Das hinterlässt natürlich Spuren im Denken, bis heute. Ich möchte politisch teilhaben an dieser Gesellschaft.
Also auch dabei sein, wenn es um den Zugang zur Macht geht.
Künstlern geht es selten um Macht. Es geht um Freiheiten. Aber wir halten uns oft nolens volens in der Nähe des Geldes auf, in der Nähe der Macht. Wir haben keine sauberen Hände. Aber wir haben immerhin die Chance, dem beschädigten Leben den Spiegel vorzuhalten. Diese Chance nutze ich.
So wie das Establishment sich Künstler hält, die sie in ihren heiligen Hallen ausstellen lässt, so hält es sich also auch den Urs Widmer als Narren vom Dienst…
Schön wär's.
…und in Ihren subventionierten Theatern lässt es Stücke wie „Top Dogs" spielen…
Also erstens ist es für einen Maler nicht ehrenrührig, wenn er von der UBS oder der Deutschen Bank gesammelt wird. Zweitens habe auch ich schon einmal beim Züricher Rotary-Club einen Vortrag gehalten. Am Paradeplatz, wo sonst. Im Publikum saß zusammengenommen Privatvermögen von geschätzten zwei Milliarden Euro. Zur Belohnung bekam ich zwei Flaschen mittelprächtigen Weins.
Kann die Literatur Menschen, die sich im Netz der Arbeitswelt verheddert haben, eine lebensöffnende Perspektive bieten?
Das kann sie, ja, sie kann den Menschen das Angebot einer Ursprünglichkeit der zweiten Art machen. Die erste Ursprünglichkeit, die nicht kulturell vermittelte, ist eine Fiktion, von der zu träumen dennoch schön ist. Wie die nackten Göttinnen und Götter Griechenlands auf den weißen Uferfelsen saßen und in unendlicher Muße übers tiefblaue Meer hinsahen...
Es gibt Leute, die behaupten, man bräuchte die Literatur nicht – eben weil sie keine Eindeutigkeit herzustellen vermag.
An diese Leute sei die Frage gerichtet: Wieso denn ist die Wirtschaftswelt emotional so karg? Dermaßen spracharm? – Ihr gegenüber steht eine Literatur, die von der Sprache des Mainstreams schon deshalb abweicht, weil die Dichter gar nicht anders können. Literatur ist Sprachabweichung.
Weshalb sie sich ständig der Gefahr aussetzt, nicht verstanden zu werden – und nicht verstanden werden zu wollen.
Es gibt Dichter, die so sehr vom Mainstream abweichen, dass man sie nicht mehr versteht. Der späte Hölderlin. Diese Dichter sind in unseren Augen dann verrückt. Ver-rückt. Es geht also in der Literatur darum, die rechte Balance zwischen Sprachabweichung und gelingender Kommunikation zu finden. Wir wollen ja schließlich verstanden werden. Pathetisch gesagt: Es ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig, dass jemand ihr ihre Geschichten erzählt. Sei es in Büchern oder in Filmen, Bildern, Fotografien, Musikstücken – Geschichten müssen sein.
Warum? Weil sie uns eine Ahnung von unseren verpassten Möglichkeiten vermitteln? Weil sie uns weh tun?
Sicher auch das. Vor allem aber, weil sie Trost spenden. Du bist nicht allein mit deinen lichten und eben auch schwarzen Gedanken und Gefühlen. Und Geschichten zeigen, dass die Sprache der Ökonomie die Sprache der wirklichen Welt nie endgültig in den Griff bekommen kann.
[09.09.2007] dieter.schnaas@wiwo.de, christopher.schwarz
Aus der WirtschaftsWoche 37/2007.
http://www.wiwo.de/pswiwo/fn/ww2/sfn/buildww/id/124/id/303817/fm/0/SH/0/depot/0/