Thursday, May 10, 2007

Orhan Pamuk im Spiegel-Gespräch

SPIEGEL: Welche Rolle spielt für Sie der Islam?

Pamuk: Ich finde es grässlich, dass wir Türken immer zuerst unter dem
Aspekt des Islam gesehen werden. Ich werde ständig nach der Religion
gefragt und fast immer mit einem negativen Unterton, der mich wütend
macht. Es stimmt, die Mehrzahl meiner Landsleute sind Muslime. Aber
wenn Sie mein Land wirklich verstehen wollen, müssen Sie dessen
Geschichte sehen und unsere stete Orientierung nach Europa. Es gibt
geradezu eine Hassliebe der Türken zur europäischen Kultur. Die
Türkei ist ein Teil Europas.

SPIEGEL: Fühlen Sie sich auch als Europäer, wenn Sie in Paris an der
Universität Vorlesungen halten oder in Deutschland auf Lesereise sind?

Pamuk: Mit dem Nationalbewusstsein ist das schon wundersam: Außerhalb
der Türkei fühle ich mich viel türkischer als in Istanbul. Wenn ich
dann zu Hause bin, tritt meine europäische Seite deutlicher hervor.
Das nehmen meine Gegner, allen voran die türkischen Nationalisten,
dann zum Vorwand, mich anzugreifen. Das empört mich umso mehr, weil
sich kaum jemand mit unserer Kultur umfassender beschäftigt hat als
ich in meinen Büchern. Aber mit meiner westlichen Ausrichtung, meiner
Liebe zu europäischer Literatur und Lebensart sitze ich zwischen
allen Stühlen.
...
SPIEGEL: Seit Ihrem Prozess haben Sie sich seltener politisch
geäußert. Früher haben Sie die politische Rolle eines Schriftstellers
stärker betont.

Pamuk: Es ist eine Sache, sich zu Politik zu äußern, den Mund
aufzumachen, wenn man wütend ist über eine Entwicklung. Zensur darf
es nie geben, man muss alles sagen können. Aber ich wehre mich
dagegen, mir Politik aufzwingen zu lassen. In den vergangenen zwei
Jahren gab es viel zu viel Politik in meinem Leben. Ich glaube sehr
an die moralische Verantwortung des Autors. Aber zuerst hat er die
Pflicht, gute Bücher zu schreiben.

Der Spiegel, 30. April 2007
http://www.spiegel.de/dertag/pda/avantgo/artikel/0,1958,480224,00.html